Sind wir nicht alle irgendwie Netzwerker? Kooperiert nicht längst jeder mit jedem? Und kann man das Beziehung nennen — oder doch nur ein schlampiges Verhältnis?
Das schlampige Verhältnis
Früher war nicht alles besser, aber manches klarer. Und Klarheit ist heutzutage ein knappes Gut. Nehmen wir das Wort Beziehung. Das stand vor einigen Jahrzehnten noch für etwas sehr Klares. Eine Beziehung hatte zwei Menschen, wenn sie miteinander was hatten, sich mochten oder gar liebten. Dieser Zustand war, auch wenn man nicht verlobt oder verheiratet war, verbindlich gedacht, nicht vage. Eine Beziehung war eine klare Sache mit klaren Regeln und einem klaren Ziel, nämlich das, was man hat, noch besser zu machen. Am Anfang dieser Beziehung „erklärte“ man sich. Man sage einander, was Sache ist — und umgekehrt. Daneben gab es auch früher andere Beziehungskisten. Da hatten Menschen was miteinander, aber unverbindlich, mit vielen Hintertüren. das wollte sich niemand erklären. Keine Verpflichtungen eingehen. Das nannte man ein schlampiges Verhältnis.
Das kennen wir gut. Heute nennen wir es Netzwerk.
Rein oberflächlich betrachtet treibt es jeder mit jedem, und das fängt früher an, als man denkt. Haben Marketing-Leute wirklich eine „tiefe Beziehung“ zu ihren Kunden? Warum duzen uns Unternehmen, als ob wir ihre Kumpels wären? Kennen wir uns? Und warum bietet eigentlich niemand Ikea das Sie an?
Wer so etwas fragt, gilt schnell als Spießer. Von minimalem Benimm und etwas Distanz, die auch dabei helfen könnten, gewollte und echte Nähe besser zu erkennen, redet keiner.
Und sonst? Die Netzwerke aller Art, ohne die man heute angeblich nicht mehr leben kann, pflegen soziale Promiskuität.
Das führt zu vielen billigen Gelegenheiten, aber selten zu etwas Festem.
Globale Beziehungskiste
Das Wort Netzwerk ist erst in den vergangenen Jahren zur Worthülse geworden. Für Techniker war das Netzwerk stets eine eindeutige und verbindliche Sache, ein nachvollziehbares System, dessen Teile klar identifiziert werden können und jeweils eine bestimmte Funktion haben. Der systematheoretische Ansatz förderte zutage, dass starre, hierarchische Organisationen, die sich als abgeschlossene Welten verstanden, in einer komplexen, arbeitsteiligen Welt mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Bedürfnissen und Funktionen zu nichts mehr taugten. Alte Unternehmen waren erfolgreich, weil sie alles im Griff hatten — und zwar hundertprozentig. neue Unternehmen sind erfolgreich, weil sie wissen, mit wem sie zusammenarbeiten sollen, damit sie ein Problem lösen.
Die Erfahrung gibt den neuen Organisationen recht. Ob Energie, Informationstechnik, Forschung und Innovation: Ohne Kooperation geht nicht mehr. Die Grenzen der alten Organisation sind gesprengt. Die alte Kontrollwirtschaft wird durch Beziehungswritschaft ersetzt. Sind wir darauf vorbereitet ?
Freunde suchen
Anders gefragt: Sind wird verbindlich genug? Lassen wir uns auf Zusammenarbeit wirklich ein? Sind wir beziehungsfähig?
Tatsächlich ist das Wort Netzwerk für die meisten Leute eine Phrase, mit der man den Antworten auf diese Fragen prima ausweichen kann. Nie ging das leichter als im Web. Da ist so viel Interaktivität, so viel Gelegenheit, dass man gar nicht mehr zum Schuss kommen muss.
Suchen wir in den Social Networks wirklich Freunde?
Wer Freunde hat, der hat auch ihre Telefonnummer, weiß, wo sie wohnen, und geht gelegentlich mti ihnen in die Kneipe. Freunde bestätigen nicht vor der Kontaktaufnahme, dass sie welche sind. Solche Beziehungen sind transparent, nicht nur, was das Adressmaterial angeht.
Bei Freunden kennen wir Stärken und Schwächen, Vorlieben und Interessen, Richtung und Kurs. Man investiert Vertrauen und hat Respekt vor dem anderen. Das ist ein erhebliches Risiko. Es interessiert mehr als eine Fähigkeit; der Mensch besteht nicht nur aus Eigenschaften. Solche persönlichen Beziehungen erkennt man auch daran, dass man vortrefflich miteinander streiten kann, um letzlich gemeinsam voranzukommen.
Diese ganze Aufstellung kenn kein „Vielleicht“ und „Möglicherweise“, keine soziale Schonhaltung und auch nicht den Wahn, man könne Beziehungen in ihre Bestandteile und Kategorien zerlegen, also gerade so, wie sich Teilnehmer in Social Networks heute präsentieren. Wie immer, wann etwas nicht echt ist, gibt es dazu Formulare. Immerhin haben fast 500 Millionen Menschen auf Fecebook so ein Formular ausgefüllt, um sich zu präsentieren. Dabei kommt heraus, was auch beim Amt raus kommt: nichts oder wenig. Statt Beziehungswirtschaft haben wir eine neue Form von Sozialbürokratie, diesmal eine freiwillige, Pro Forma 2.0 sozusagen.
Quid pro quo
Nur damit es keine Missverständnisse gibt: Nicht alle Menschen in Social Networks machen es sich so leicht. Und es genügt auch nicht, dass man sich nun schnurstracks von der Beliebigkeit der netwerkbeziehung gleich in den nächsten Irrtum flüchtet, die berüchtigte Beziehungsarbeit zum Beispiel. Mit diesem Wort belegten 68er-Sozialpsychologen jenen Eiertanz, bei dem man so lange über menschliche Verhältnisse redet, bis man sich nichts mehr zu sagen hat. Sozialingenieure doktern an ihren Verhältnissen so lange herum, bis sie zum Totalschaden werden. Das leigt an der leicht irren Idee, man könne menschliche Beziehungen allgemein und verbindlich planen, steuern, konstruieren und nach Bedarf zusammenschrauben — so lange, bis sie dem eigenen, meist völlig verkorksten Weltbild entsprechen. Das hat wenig mit Beziehugnsfähigkeit zu tun, aber jede Menge mit Manipulation.
Genau das will Kooperation eben nicht.
Denn die Frage dabei lautet immer: Was könnt ihr denn anbieten? Was können wir für euch tun? Wie kommt dabei etwas heraus, das wir — jeder für sich — nicht so gut schaffen würden? Kooperation ist ein evolutionäres Prinzip. Man legt zusammen, und aus 1+1 wird 3. Das gilt in den neuen Netzwerken, wie es in den ältesten galt, die wir kennen. Die alten Lateiner haben den Sinn der Sache in der Phrase quid pro quo zusammengefasst. Dieses für jenes. Eine Beziehung ist kein Selbstbedienungsladen, kein Wunschkonzert.
Eine Beziehung ist ein Geschenk. Eine Beziehung ist ein Geschäft. Ein Deal. Quid pro quo.
Mag sein, dass das Wohlstandskinder mit Internetanschluss empört — das wäre jedenfalls zu hoffen. Vielleicht fragt sich dann mal jemand, was es denn eigentlich bringen soll, 120 000 Freunde von Freunden in der ganzen Welt zu haben, aber im engeren Umfeld die Beziehungen schleifen zu lassen? Kommen dabei mehr Friede, Gerechtigkeit oder auch nur bessere Geräte heraus? Nichts von alldem. Es ist Drückebergertum im digitalen Zeitalter. Statt zu handeln, zu machen und zusammenzuarbeiten, bastelt man sich einen Fetisch. Das ist leichter.
Es bedeutet nichts.
Quickies und Wikis
Das heißt noch lange nicht, dass mit Netzwerken und Web nichts geht. Denn diese Welt wird allmählich erwachsen. Das merk man an den klareren Konturen zwei großer Gruppen, die im Netzwerken arbeiten: die Facebook-Welt und die Wiki-Welt. Man könnte auch sagen: Auf der einen Seite die meisten schlampigen Verhältnisse (Quickies), auf der anderen die Welt der konstruktiven Zusammenarbeit. Hier Selbstbefriedigung, dort Kooperation.
Die Wiki-Welt arbeitet zusammen, weil es ihr nutzt. Auch in vielen Organisationen beginnen Leute, mit anderen Abteilungen zu kooperieren und dadurch gemeinsam mehr zu erreichen als in der Nische. Das ist nicht das alte Team, in dem sich jeder hinter dem anderen zu verstecken suchte. Die Wiki-Welt geht weiter: Projekte entstehen, weil alte Kontrollvorstellungen über Bord geworfen werden. Der andere ist nicht der Feind, sonder der Partner.
Quid pro quo also. Das Netzwerk wird erwachsen.
Vielleicht hat das mit einer Konstante menschlichen Verhaltens zu tun: Wo es Menschen gut geht, ohne dass sie die Gründe dafür klar erfassen — also den Kontext zu ihren Wohlstand verloren haben –, blüht der Eigennutz, auch wenn der heute vielfach unter dem Tarnmantel der Solidarität daherkommt. In solchen Kümmerergesellschaften, das hat Paul Watzlawick schon in den siebziger Jahren gezeigt, ist die Bereitschaft zu echten Kooperation gering. Der vorherschende Typ ist der Nörgler, Neider, Misanthrop, einer, der sich — und andere — nicht leiden kann. Kooperation ist in dieser Welt wie Kapitulation. Eine Niederlage. Man kann andere besiegen — etwa in Form eines Zukaufs, einer Fusion. Aber gleichberechtigt zusammenarbeiten?
In Zeiten der Krise hingegen erfahren echte Kooperationen einen Schub. Es wird vielen klar, dass es gemeinsam besser geht und dass das nicht nur eine Worthülse ist. Nun sind einige bereit, dafür auch etwas aufzugeben, einen Konsens mit anderen zu finden. Diese für jenes. „Die Kooperationen nehmen spührbar zu, das ist ein großes Thema geworden“, sagt Theresia Theurl, Professorin für Volkswirtschaftslehre und Direktorin des Instituts für Genossenschaftswesen in Münster. Und das, ergänzt sie, liege eben nicht allein an klammen Kassen und schweren Zeiten: „Es gibt immer mehr Unternehmen, Konzerne ebenso wie Mittelständler, denen klar geworden ist, dass sie nicht alles allein machen müssen. Und die den Sinn von Kooperationen verstehen — nämlich wettbewerbsfähiger und besser zu werden“, sagt Theurl. „Früher musste man kooperieren. Heute will man das. Das ist ein anders, ein höheres Level der Erkenntnis.“
Erklärungen
Rein theoretisch ist diese Entwicklung nicht neu. Kooperationen als Grundelement wirtschaftlichen Handelns beschäftigt die Wissenschaft seit Langem — etwa die Spieltheorie. Der Homo cooperativus als legitimer, überlegender Nachfolger des Homo oeconomicus ist aber ein neues Modell. Die Kooperation wird erwachsen, wird praktisch, alltäglich und normal. Ein gutes Zeichen. Doch solange über Netzwerke mit quasireligöser Verehrung geredet wird, ist etwas faul. Der Homo cooperativus ist kein edler Gutmensch, sondern kennt seine Interessen — und wahrt sie durch die Kooperation. Der alte Beziehungsbegriff ist moralingetränkt — er tut immer so, als ob es keine Interessen gäbe. Deshalb wuchert auch die Heuchlerei überall dort, wo es um Zusammenarbeit, Kooperationen, Netzwerke geht, so stark. Man darf einfach nicht sagen, was Sache ist: Ich kooperiere, weil es mir nützt.
Diese Kooperationsromantik, sagt Theurl, sei gefährlich — und habe lange die Sicht vernebelt. Abseits von wohlfeilen Netzwerkbegriff der vergangenen Jahre arbeiteten Forscher wie sie an neuen Konzepten des Kooperatinosmanagements: „man muss wissen, auch methodisch wissen, wie man Zusammenarbeit anpackt. Und es hat jahrelang nicht an guten Worten gefehlt, aber an Wissen und Erfahrungen.“
Miteinander arbeiten — das heißt in der Sprache der Organisationen noch vor einigen Jahren vor allem: übereinander herfallen (man kann das auch Fusionen nennen). Und Fusionen bedeuten, dass man Marktanteile „eroberte“, nicht etwa, dass man versuchte, neue Märkte zu schaffen, indem die Kraft auf Innovationen gelenkt wurde. Als gelungene Fusionen galten diejenigen, bei denen alle Reste der Kultur des gekaperten Unternehmens bescietigt worden waren. Da ging es nur gelegentlich ums Geschäft, weit öfter um alte Rechnungen.
Das funktioniert nicht mehr. Die Strukturen sind zu komplex. Die Mitarbeiter zu selbstbewusst. Die Märkte zu gesättigt. Statt zur Zwangsheirat kommt es heute zur Vernunftehe. Das ist nicht das Schlechteste.
Dazu müssen sich Kooperationswillige auch auf die Kultur des anderen einlassen. „Man muss verhandeln wollen, einen Konsens finden und sich überlegen: Was kriege ich dazu? Und wie viel von meiner Identität muss ich in einer Kooperation auch aufgeben?“, sagt Theurl. Das sind interessante neue Formen der Beziehungsarbeit. Sie bringen vor allen Diengen eines: „Klarere Regeln, klarere Rechte und Pflichten und Verbindlichkeiten“, so die Kooperationsforscherin. Wer Beziehungen sucht, muss sich erklären — klar und deutlich. Das muss zum Alltag werden.
Resultate
Das bestätigt auch Felix Benecke, in Düsseldorf ansässiger Berater der Züricher Hostettler & Partner AG: „Unternehmen überschreiten überall die Grenzen ihrer klassischen Strukturen und Aufgaben, das geht seit Jahren so. Und es ist logisch, dass diese Organisationen nun auch in Beziehungsfragen eine Erweiterung suchen — Kooperationen werden zum unternehmerischen Normalzustand.“
Für Leute wie Benecke ist das leichter zu sehen als für andere Berufsgruppen. Unternehmensberater kennen die Beziehungswirtschaft aus eigenen Erleben. Viele von ihnen verbringen mehr Zeit in der Organisation ihrer Kunden als in der Firma, auf deren Gehaltsliste sie stehen. Sind sie jetzt Teil des Unternehmens, das sie bezahlt, oder eigentlich schon längst in die Kultur des Auftraggebers integriert? Die Praxis beantwortet diese Frage: Statt hoher Loyalität zum Boss gibt es ein Loyalität zur eigenen Arbeit. Wie bei jeder guten Beziehung geht es um Inhalte. Nicht um Formen. Und es geht um Unterscheidbarkeit.
Warum aber sollten Spezialisten und Experten tun, was in Kooperationen unerlässlich ist — ihr Wissen teilen? War nicht die alte Ordnung so, dass man das, was man konnte, möglichst sorgsam vor dem Zugriff anderer — einschließlich der eigenen Organisation — bewahren musste, um zu überleben?
Jeder kennt sie, die kleinen Haie in der eigenen Firma, die Neider, die Abstauber und Quertreiber. Warum sollte es draußen, bei den alten Konkurrenten und nun potenziellen Kooperationspartnern, besser aussehen? Haben wir nicht alle gelernt, dass Kooperation eher bestraft wird als belohnt? Und sind Begriffe wie Team und Gruppe in der realität nicht meist heuchlerische Umschreibungen von Kumpanei und organisiertem Nichtstun?
Doch es geht eben nicht um Seilschaften, um den Betriebsklüngel, der allenthalben regiert und bestimmt, „was Sache ist“. Wer wirkliche Kooperation will, muss gerade diese Spielchen abschaffen, empfiehlt Benecke: „Da müssen Führungskräfte ran — und energisch und verbindlich dazwischengehen. Wer zulässt, dass die Kooperationsfähigkeit im Unternehmen leidet, schadet dem Geschäft. So einfach ist das“ — sagt Benecke.
Tja, so einfach und so schwer. Denn die schlampigen Verhältnisse, die heute vielfach als Beziehung verkauft werden, sind noch weitverbreitet. In Sachen Beziehung stecken die meisten in der Pubertät. Und deshalb funktioniert sie so oft noch nicht, die richtige Beziehung, bei der aus eins plus eins drei werden könnten. Das ist aber das einzige Resultat, das zählt.
Eine Beziehung für Erwachsene eben.
Quellen:
- BRAND EINS 07/10, S.84ff
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