In deutschen Führungsetagen macht sich ein Trend zur Vereinfachung breit. Vorstandsvorlagen sind methodisch und analytisch auf niedrigem Niveau. Das kann zu fatalen Fehlern führen.

Keine Frage: Es ist rational, sich in einer immer komplexeren Welt nicht in jeden Sachverhalt bis ins letzte Detail einzuarbeiten und als Entscheider zwischendurch auch mal auf Sicht zu fahren. Böse Überraschungen gibt es nur dann, wenn diejenigen, die den Durchblick haben sollten, einen vorab nicht über mögliche Hindernisse und Gefahren informieren. Doch was in der Fliegerei zur Grundausbildung von Piloten und Kopiloten gehört, scheint in der Wirtschaft in Vergessenheit geraten zu sein: Das Niveau vieler Vorstandspräsentationen oder Entscheidungsvorlagen ist mitunter so niedrig, dass einem, was die Qualität der strategischen Planung vieler Unternehmen angeht, bange werden kann. Der Gleichmut jener, die auf Basis dieser Vorlagen Entscheidungen treffen sollen, ist erschreckend. Viel zu wenige Führungskräfte äußern den Wunsch, von ihren Mitarbeitern und Beratern fundierter, umfassender oder neutraler informiert zu werden.

Auch das Controlling wirkt in diesem Zusammenhang nicht regulierend, da Entscheidungsvorbereitung nun mal etwas vollkommen anderes ist als Datenbereitstellung und eine systematische, risikogerechte Bewertung von Handlungsoptionen – ausgehend von transparenten Annahmen – erfordert. Genauso wenig ändern externe Berater und Prüfer etwas an der Situation, was ebenfalls an ihrer Rolle liegt: Häufig werden sie implizit beauftragt, um vom Chef bereits getroffene Entscheidungen zu rechtfertigen, und müssen um Folgeaufträge fürchten, sollten sie zu gravierend abweichenden Schlussfolgerungen kommen. Die Weiterentwicklung der Instrumentarien der Entscheidungsvorbereitung, das Anbringen von Gegenargumenten und mathematisch anspruchsvollen Methoden, die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Szenarien und die Quantifizierung von Risiken gehören nur in wenigen Fällen zu ihrem Aufgabenprofil.

Noch dazu gilt die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte einfach und optisch ansprechend aufbereiten zu können, vielerorts als Qualitätsmerkmal. Nicht selten wird diese Prämisse sogar höher bewertet als der eigentliche Inhalt der Präsentationen – mit der Folge, dass einzelne Vorlagen ins Triviale abzukippen drohen. Mathematik ist tabu, Erläuterungen zu Methode und Annahmen sind zu langweilig, und Risiken sollten, wenn überhaupt, nur sehr dezent gezeigt werden. Der Partner einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft drückte es so aus: Aus seiner Sicht müsse eine Vorstandspräsentation – zumindest wenn man an Folgeaufträgen interessiert sei – „KLV-tauglich“ sein: für Kinder, Laien und Vorstände gleichermaßen nachvollziehbar.

Mit anderen Worten: Vielen Dienstleistern geht es gar nicht um Erkenntnisgewinn oder darum, Fehlentscheidungen vorzubeugen – sie wollen ihrem Auftraggeber allein das Gefühl vermitteln, gut beraten zu sein und das Richtige zu tun, was nun mal am besten geht, wenn Inhalte nicht kompliziert, sondern eher nebulös (und damit unangreifbar) präsentiert werden und ohne spezifische betriebswirtschaftliche Kenntnisse vorauszusetzen.

Die Art und Weise, wie Aufträge an und in Unternehmensberatungen vergeben und verteilt werden, tut ein Übriges: Externe Dienstleister neigen daher immer mehr dazu, ihre analytischen und konzeptionellen (und damit entscheidungsvorbereitenden) Beratungsleistungen möglichst kompakt und günstig anzubieten, um sich damit spätere Folgeaufträge bei der Umsetzung zu sichern. Nicht selten wird dabei in den defizitär kalkulierten Auftrag für Analyse und Konzeptentwicklung möglichst wenig Arbeitszeit und Spezialkompetenz investiert. Sie versuchen dann ein möglichst großes Umsetzungsprojekt durchzuführen – mit dessen Hilfe sie die zunächst entstandenen Defizite kompensieren können.

DILEMMA DER ZUTRÄGER

Natürlich darf man nicht alle Vorstände, Stabsstellenmitarbeiter und Berater pauschal über einen Kamm scheren, doch die in vielen börsennotierten Konzernen übliche Ausrichtung auf kurzfristig orientierte Aktionäre unterstützt die These dieses Artikels. Niemand erwartet, dass eine Führungskraft zugleich Spezialist für sämtliche betriebswirtschaftlichen Methoden und diverse andere Fachgebiete ist. Wirtschaft lebt von Vielfalt, Arbeitsteilung und Wettbewerb. Doch wenn viele Vorstände als Generalisten gar nicht mehr wissen, was State of the Art ist, weil ihre Mitarbeiter ihnen aus Sorge, die Chefs mit ihrer Expertise bloßzustellen oder durch die Unterbreitung womöglich selbst als Theoretiker zu gelten, diese vorenthalten, können Führungskräfte sich auch nicht für deren Anwendung einsetzen.

Auch die internen und externen Berater stecken in der Klemme. Denn warum sollten sie sich intensiv in neue Methoden und komplexe Sachverhalte einarbeiten, wenn sie wissen, dass der Vorstand vieler Mandanten diese weder kennt noch schätzt und in Anbetracht seines dicht gefüllten Terminkalenders einfache Lösungen präferiert? Solange alle Seiten aus dem „KLV-Ansatz“ Nutzen ziehen, reicht es für Berater und Mitarbeiter, sich ein gesundes Halbwissen anzueignen, das sich nur knapp oberhalb des Levels ihrer Chefs bewegt.

Vor diesem Hintergrund scheint es geradezu logisch, dass die in der Praxis genutzten betriebswirtschaftlichen Methoden oft den Wissensstand vor 50 Jahren widerspiegeln. Beispiele sind etwa die damals entwickelten Markowitz-Portfolios und das Capital-Asset-Pricing-Modell (CAPM), das noch immer Grundlage für Bewertung und wertorientierte Steuerung ist, obwohl empirische Studien gezeigt haben, dass Kapitalkosten so nicht aus historischen Aktienrenditeschwankungen ableitbar sind. Es gibt mehr als einen Produktionsvorstand, der bei den eigenen Produkten einen Technologie- oder Wissensrückstand von zwei bis drei Jahren für inakzeptabel hält, sich aber nicht darüber aufregt, dass im betriebswirtschaftlichen Steuerungsinstrumentarium seines Unternehmens kaum ein Fortschritt festzustellen ist oder bestenfalls bekannte Methoden unter neuem Namen verkauft werden.

Anstatt offen für neue Methoden und fundierte Analysen zu sein, werden in vielen Führungsetagen Managermythen weitergereicht: Da heißt es dann, Konzentration sei besser als Diversifikation oder ein negativer Kapitalerlös nach Abzug der Kapitalkosten sei ein eindeutiges Signal dafür, dass man ein Geschäftsfeld schließen müsse. Wer fragt hier eigentlich nach dem Warum? Und wer fragt nach den zugrunde liegenden Annahmen solcher Plattitüden? Viel zu selten werden die eigentlichen Quellen, Studien und Methoden offengelegt.

IGNORANTE VORGESETZTE

Die Tatsache, dass viele Führungskräfte einer systematischen Entscheidungsfindung mithilfe von betriebwirtschaftlichen Methoden noch immer eher verhalten gegenüberstehen, hat auch etwas mit einer allgemeinen Ablehnung von formalen Modellen zu tun. Viele Menschen lehnen theoretische Modelle mit dem Argument ab, dass deren Annahmen nicht hundertprozentig die Realität widerspiegelten. Doch statt im Folgeschritt nach realitätsnäheren Annahmen zu suchen und so eine für die reale Entscheidungssituation passendere Methodik zu entwickeln, werden alle Modelle pauschal abgelehnt und es wird weitgehend „aus dem Bauch heraus“ entschieden. So bleiben Annahmen und Bewertungsverfahren jedoch intransparent. In dieser Herangehensweise unterscheidet sich die Betriebswirtschaftslehre übrigens fundamental von den Naturwissenschaften. Während Modelle und Theorien dort in aller Regel permanent verbessert, angepasst und diskutiert werden, wird ein ökonomisches Modell nach den ersten geäußerten Zweifeln sofort verworfen oder unreflektiert weiterverwendet.

Wenn etwa historische Kapitalmarktrenditen, wie sie durch das CapitalAsset-Pricing-Modell ausgewertet werden, keine adäquate Grundlage für die Quantifizierung der zukünftigen Risiken einer Investition liefern, könnten stattdessen projektspezifische Kapitalkosten mittels sogenannter Risikoanalyse und Simulationsverfahren abgeleitet werden. Dabei wird eine große, repräsentative Anzahl risikobedingt möglicher Zukunftsszenarien berechnet. Doch diese Methode wird vielen Entscheidungsträgern unbekannt sein, oder man hat von „Anwendungsproblemen“ gehört – sie werden sie deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nutzen. Wenn in der Informatik, Medizintechnik, Pharmazie oder den Ingenieurwissenschaften eine aussichtsreiche neue und anspruchsvolle Methodik bekannt wird, werden alle betroffenen Mitarbeiter geschult, um die neuen Erkenntnisse möglichst zügig in Wettbewerbsvorteile umsetzen zu können. Wenn dagegen im Bereich der Betriebswirtschaft neue Erkenntnisse auftauchen, werden sie geflissentlich ignoriert. Mitarbeiter in naturwissenschaftlichen und Forschungsabteilungen bekommen in aller Regel Arbeitszeit zur Verfügung gestellt, damit sie sich durch die Lektüre von fachlichen Journals“ mit neuen Methoden vertraut machen. Im Management muss man diese Praxis suchen, selbst an den Universitäten und Hochschulen werden vielerorts noch bevorzugt alte Kamellen verkauft – gerade weil diese in der Praxis noch immer verwendet werden. Statt den Nachwuchs zu ermutigen, sich mit neuen, besseren Verfahren zu befassen, orientiert man sich lieber an der Abkürzung KISS – „keep it simple and stupid“. In der Praxis wird von Betriebswirten im Rahmen der Inveslitionsrechnung etwa kaum mehr als der Einsatz von Grundrechenarten gefordert, obwohl die technischen und ökonomischen Aspekte einer Investition (oder eines Unternehmens) extrem komplex sind und nur durch anspruchsvolle mathemalische Verfahren und Simulationsmodelle abgebildet werden können.

Angesichts der beschriebenen Unterschiede ist es deshalb wenig erstaunlich, dass als Grundlage etwa für Unternehmensplanung, Unternehmensbewertung oder Investitionsbewertung oft keine Erwartungswerte von Erträgen oder Cashflows verwendet werden, die nach Abwägen der Chancen und Gefahren berechnet werden. Auch die Grundsätze ordnungsgemäßer Planung (kurz GoP), in denen der Bundesverband Deutscher Unternehmensberater seit 2009 die Anforderungen an eine fundierte Unternehmensplanung festgelegt hat, haben daran nicht viel geändert. Noch immer gibt es zahlreiche Unternehmen, die nicht einmal definieren, worum es bei einem Planwert genau geht. Ist damit etwa der Ziel- oder der Erwartungswert gemeint? Angesichts dessen ist es sogar nachvollziehbar, dass viele Mitarbeiter diesen als „wahrscheinlichsten Wert“ verstehen und so auch als Entscheidungsgrundlage verwenden, was nicht selten zu Fehlinvestitionen führt. Genauso zeugt es von einer geradezu traurigen Inkompetenz im Risikomanagemenl, wenn Verantwortliche dort die Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit von Risiken multiplizieren und die Summe daraus mit dem Eigenkapital vergleichen, um die Insolvenzwahrscheinlichkeit eines Unternehmens einzuschätzen – eine Praktik, die selbst in großen Unternehmen immer wieder so angewendet wird.

FAZIT

Solange Führungskräfte keinen Anstoß nehmen, wird das betriebswirtschaft­liche Steuerungsinstrumentarium im Großteil aller Unternehmen auf einem vergleichsweise rudimentären Stand verbleiben. Nur wenn Verantwortliche beginnen, die Anforderungen an Entscheidungsvorlagen zu erhöhen, etwa durch Qualitätssicherung, und einen Anstoß für die Weiterentwicklung des betriebswirtschaftlichen Instrumentariums geben, wird sich daran etwas ändern. Der CEO (oder CFO) muss sich als Mentor für betriebswirtschaftlichmethodische Innovationen im Unternehmen verstehen und dafür sorgen, dass jedes wichtige Konzept, jeder wichtige Entscheidungsvorschlag und jedes Gutachten durch eine neutrale Stelle inhaltlich geprüft und nur dann durchgewunken wird, wenn die genutzte betriebswirtschaftliche Methodik und die Anwendungsvoraussetzungen explizit genannt werden.

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