Bei Individuen und Interaktionen handelt es sich um den ersten Wert, der einem beim Lesen des Agilen Manifests ins Auge springt. Von daher wird er auch vermutlich am häufigsten diskutiert und mit den unterschiedlichsten Dingen in Verbindung gebracht. Bis man bei den anderen Werten ankommt, hat mein sein Pulver ja meist schon verschossen oder ist des Lesens müde. Von daher werde ich mich auch in diesem Artikel voll auf diesen ersten Wert konzentrieren.

Bei allen Werten, die man im Rahmen der agilen Entwicklung betrachtet, muss man die folgende Präambel aus dem Agilen Manifest mit heranziehen, da diese den Kontext vorgibt:

,,Wir erschlieĂźen bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir dies selbst tun und anderen dabei helfen. Durch diese Tätigkeit haben wir schätzen gelernt:“

FĂĽr Zusammenarbeit sorgen

Organisationen haben erkannt, dass das Freischalten von Agilität mehr als nur die Skalierung einer Vielzahl von Scrum-Teams erfordert. Die Organisationstheorie geht auf die 1940er Jahre zurĂĽck und war von der Idee geprägt, dass eine Organisation am besten verstanden werden kann, wenn man jedes ihrer Teile sorgfältig studiert – ähnlich wie eine Maschine. (Hesselberg 2019)

Folglich betrachten wir bei den Individuen Personen, die in irgendeiner Form mit der Softwareentwicklung in Verbindung stehen. Das lässt vermuten, dass die Interaktionen dieser Individuen auch mit Softwareentwicklung zu tun haben, ob nun direkt (beispielsweise durch paarweises Programmieren) oder indirekt, indem durch Kommunikation eine Basis zur Zusammenarbeit entwickelt wird.

In Europa werden die Begriffe Individuen und Interaktionen ĂĽblicherweise mit ,,Team“ oder sogar ,,Teamgeist“ gleichgesetzt, das heiĂźt man betrachtet, inwiefern jeder Einzelne das Team unterstĂĽtzt, in das Team passt oder ganz grundsätzlich mit den Teamkollegen zusammenarbeitet. Manchmal wird dieser Wert — Individuen und Interaktionen — noch allgemeiner verwendet oder verstanden, nämlich inwiefern wir es ĂĽberhaupt mit einem Team oder lediglich mit einer Gruppe von Personen zu tun haben. Damit sind wir dann auch sehr schnell bei der Selbstorganisation — zwar organisiert sich auch eine Gruppe selbst, aber bei einem Team geschieht dies (hoffentlich) im Hinblick die Erreichung des gemeinsamen Ziels. Diese Interpretation des Werts hängt einerseits mit unserem europäischen Hintergrund zusammen und andererseits damit, dass wir die Individuen nicht (oder sogar nie) von den Interaktionen trennen — was sich ebenfalls auf unsere europäisch-deutsche Kultur zurĂĽckfĂĽhren lässt.

Folglich ist das Agile Manifest — und damit auch jeder in ihm deklarierte Wert — vor seinem kulturellen Hintergrund zu sehen: Die Autoren des Agilen Manifests haben dieses mit ihrem — fast ausschließlich US-amerikanischen — kulturellen Hintergrund geschrieben und wir lesen und interpretieren das Manifest mit unserem europäisch—deutschem Hintergrund. Das muss kein Problem sein, kann jedoch in manchen Fällen zu unterschiedlichen Interpretationen führen.

Vergleich der Kulturen: Deutschland und SĂĽd-Korea gegenĂĽber den USA
Vergleich der Kulturen: Deutschland und SĂĽd-Korea gegenĂĽber den USA

Wie diese Abbildung zeigt, unterscheiden sich die US—amerikanische und die deutsche Kultur vor allem in der Dimension des Individualismus (der zweite groĂźe Unterschied liegt im ,,Unsicherheiten—Vermeidungsindex“). Der Ansatz, eine Kultur ĂĽber diese Dimensionen zu erklären sowie zwei Nationen diesbezĂĽglich miteinander zu vergleichen, basiert auf dem Werk von Geert Hofstede (vgl. [Hof]). Er zieht hierfĂĽr fĂĽnf Dimensionen heran, weshalb der Vergleich auch das 5D Model genannt wird. Bei diesen fĂĽnf Dimensionen handelt es sich um:

  • Power Distance Index: Der PDI bezieht sich auf die Akzeptanz der (ungleichen) Machtverteilung.
  • Individualismus: Der IDV bezieht sich auf die Integration von Individuen in Gruppen.
  • Masculinity: Der MAS bezieht sich auf die Rollenverteilung unter den Geschlechtern.
  • Uncertainty Avoidance Index: Der UAI bezieht sich auf die Toleranz von Unsicherheit und Ungewissheit.
  • Long-Term Orientation: Der LTO bezieht sich auf langfristige Ausrichtung und Respekt vor Traditionen

Ăśbrigens kann dieser Vergleich auch hervorragend genutzt werden, um herauszufinden, worauf man in der globalen Zusammenarbeit mit einer bestimmten anderen Nation, wie beispielsweise Deutschland mit Indien, besonders achten muss.

Ich möchte mich hier ausschlieĂźlich auf die Dimension ,,Individualismus“ konzentrieren. Um diese besser zu verstehen, kann man auch das Gegenteil zu Rate ziehen, den Kollektivismus:

  • In extrem auf Individualismus ausgeprägten Nationen, wie den USA, wird wenig aufeinander geachtet. Es wird davon ausgegangen, dass sich jeder um sich selbst kĂĽmmert – nach dem Motto eines frĂĽheren Kollegen von mir: ,,Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an jeden gedacht“.
  • In Nationen, bei denen der Kollektivismus eine größere Rolle spielt (am stärksten ausgeprägt ist dies in SĂĽd-Korea der Fall), ist der Einzelne in eine Gruppe eingebunden, es gibt eine Gemeinschaft die einen auffängt, ein soziales Netz.

Aufgrund dieses Unterschieds lässt sich im Ăśbrigen auch die amerikanische Diskussion ĂĽber die ,,Krankenversicherung fĂĽr alle“ besser verstehen: FĂĽr die US—BĂĽrger, deren Kultur auf Individualismus basiert, ist eine Krankenversicherung gleichbedeutend mit einer Beschneidung der individuellen Freiheit. Dahingegen ist uns diese Diskussion unverständlich, da wir kaum erkennen können, worin denn diese Freiheit (bezogen auf die Krankenversicherung) bestehen soll. Auch wenn dieses Beispiel eher ein politisches ist, so hat diese Dimension nichts mit Politik zu tun, sondern mehr mit generellen Ăśberzeugungen. Aus diesem Grund bezeichnet Geert Hofstede gerade diese Dimension fĂĽr Gesellschaften als fundamental.

Konsequenterweise hat der Wert ,,Individuen und Interaktionen“ weniger damit zu-tun,—was im Team passiert, sondern er bezieht sich darauf, dass die individuelle Freiheit und auch persönliche Vorlieben des Einzelnen respektiert werden. Eine kleine Einschränkung haben wir dann aber doch noch, nämlich durch die Interaktionen. Das heiĂźt, die individuelle Freiheit darf nicht die eigene individuelle Freiheit des Kollegen beschneiden. Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der europäischen Erklärung ĂĽber das Team oder den Teamgeist. Der spielt in der amerikanischen Bedeutung — hier bei diesem Wert — keine Rolle.

Mary Poppendieck meinte auf ihrer Keynote mit dem Titel ,,The Cultural Assumptions behind Agile Software Development“ im Rahmen der XP-Konferenz 2009 in Pula (Italien) dazu:

,,Der Wert Individuen und Interaktionen basiert auf der amerikanischen Annahme, dass Individualismus ungeheuer wichtig sei, währenddessen er aber beispielsweise in SĂĽd-Korea vollkommen unwichtig ist“.

In der amerikanischen Interpretation wird deshalb auch klar zwischen den Individuen und ihren Interaktionen getrennt. Wir können dazu noch die Definitionen aus Wikipedia zu Hilfe nehmen:

  • ,,Ein Individuum (lat.: das Ungeteilte) ist ein Mensch oder Gegenstand, insofern er einzeln ist und sich von anderen Menschen und Gegenständen unterscheidet. […] Bei Menschen wird statt von ,,Individuen“ auch von ,,Personen“ geredet, deren individuelle Eigenschaften und Interessen dann den Besonderheiten, die in einer Bevölkerungsgruppe (Gemeinschaft, Gesellschaft, Kollektiv) vorherrschen, gegenĂĽbergestellt werden können” (vgl. [Wik10-a]).
  • ,,Interaktion bezeichnet das wechselseitige Aufeinandereinwirken von Akteuren oder Systemen und ist eng verknĂĽpft mit den ĂĽbergeordneten Begriffen Kommunikation, Handeln und Arbeit“ (vgl. [Wik10—b]).

Aus der Definition des Begriffs ,,Individuum“ wird deutlich, dass es um die einzelne Person und nicht um das Team geht. Die Definition der Interaktion bezieht sich jetzt darauf, dass diese einzelnen Personen zum Zwecke ihrer Arbeit, d. h. Der Softwareentwicklung, aufeinander wirken. FĂĽr die amerikanische Kultur ist damit die Interaktion die Einschränkung, wohingegen fĂĽr eine deutsche Kultur das Zusammenspiel von Individuen und Interaktionen eher schon direkt als Kollektiv — sprich Team — verstanden wird.

Beim Manifest geht es also tatsächlich um das einzelne Individuum und die Auswirkung seiner Aktionen. Damit sind wir beim Kern von Lean, denn bei Lean steht der einzelne Mensch im Mittelpunkt. Lean basiert auf der Annahme, dass eine kontinuierliche Verbesserung immer vom einzelnen Menschen ausgeht — egal ob FĂĽhrungskraft oder ,,normaler“ Mitarbeiter (vgl. [Lik04]). Agile Vorgehensweisen mit der viel zitierten Selbstorganisation und dem ständigen Verbesserungsprozess (nicht zuletzt durch die Feedback-Schleifen mittels Iterationen und Retrospektiven) setzen darauf, dass jeder Einzelne in die Eigenverantwortung geht und auch bei sich selbst nach Verbesserungspotenzialen Ausschau hält. Dies ist im Sinne von Lean oder genauer von Kaizen die Selbstverbesserung auf allen Ebenen und damit Leadership vor allem in der Bedeutung von SelbstfĂĽhrerschaft (vgl. [Pol10]). Dies betonte Kent Beck bereits auf der XP—Konferenz 2001 in Villasimius (Italien):

,,Leadership erfolgt jederzeit, in jeder Minute durch jeden im Team. Dies gilt sogar fĂĽr die stillsten Mitarbeiter. Gesunde Teams verlassen sich nicht auf ihre offiziellen Leader, sondern ĂĽbernehmen selbst die Verantwortung.“

Zusammenfassend lässt sich sagen, das Manifest wurde — wie jedes andere Dokument, jedes Buch und jede Webseite auch — vor einem kulturellen Hintergrund geschrieben und wird unter Umständen vor einem anderen kulturellen Hintergrund gelesen und interpretiert. Auch wenn Geert Hofstede den Eindruck vermittelt, dass eine Kultur nur durch eine Nation entsteht, ist dies nur ein Teil der Wahrheit. Eine Kultur wird ebenfalls von einer Firma geprägt, von Abteilungen, Gruppen, Familien und Personen. Folglich muss ein Dokument wie das Agile Manifest immer von der vorherrschenden Kultur interpretiert werden, um es in die dort gültige Realität umzusetzen.

Viel wichtiger ist es jedoch, den Wert Individuen und Interaktionen im Lean-Sinne zu verstehen und sich klar zu machen, dass nur dadurch, dass jeder Einzelne eigenverantwortlich handelt, er auch Verantwortung für das Ganze übernehmen kann. Oder anders ausgedrückt: Man kann nichts verbessern, solange man nicht bei sich selbst anfängt.

Quellen: